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Mein Leben Mit Musik (28), aus: Die Zeit Online, 16. 7. 2006

Ich lausche der Natur

Unser Autor ist Komponist. Um sich zu inspirieren, geht er nach draußen und streckt Gletschern, Fröschen und Vulkanen sein Mikrofon entgegen. Erfahrungen aus dem tönenden Alltag

Von Andreas Bick

Ich erinnere mich an einen langen Winter in meiner Kindheit. Als es endlich wärmer wurde, spielten wir Kinder am nahe gelegenen See, der noch zugefroren war und unter der sinkenden Sonne zu glühen schien. Krachende Geräusche tönten aus dem See, peitschende Risse schüchterten uns ebenso ein wie das dünne, brüchige Eis. Die Mutprobe bestand darin, sich so weit wie möglich auf die Eisfläche hinauszuwagen. Noch heute erinnere ich mich an das unwohle Gefühl da draußen und an die unheimlichen Geräusche, die wie elektrische Blitze klangen und sich durch den ganzen See ausbreiteten.

Die Mutprobe verlor ich, meine Faszination für seltsame, geheimnisvolle Klänge blieb. Es war Mitte der achtziger Jahre, ich zog vom Land nach Berlin und wurde in ein neues Leben geworfen. Ich spielte in Underground-Bands, fuhr nebenbei Taxi und experimentierte mit allerlei Tonstudiogeräten herum. Um mich meiner neuen Umgebung zu vergewissern, machte ich Aufnahmen von allem, was mir in die Quere kam: Ich zeichnete heimlich meine Fahrgäste auf, dokumentierte die Geräusche im Hinterhof, und wenn am 1. Mai die Steine flogen, hatte ich mein Mikrofon dabei. So entwickelte sich ein akustisches Archiv, das mir Orte und Momente in Erinnerung hielt, die ich ansonsten wohl vergessen hätte. Beim Anhören meiner Aufnahmen konnte ich Bilder zurückrufen und Gefühle mit einer Tiefenschärfe wiedererwecken, wie es mir mit Fotografien nicht möglich war. Ich begann, die Tonspur meines Lebens zu erkunden, schrieb akustisches Tagebuch: Das Mikrofon war meine Schreibfeder und das Magnetband (heute ist es eine Festplatte) das leere Blatt Papier.

Ich ging auf Reisen, entdeckte neue Klänge, fremdartige Geräusche und exotische Klanglandschaften. Die Welt wurde zum akustischen Steinbruch und je ferner der Ort, je weiter die Distanz zur Zivilisation, umso größer das Versprechen einer neuen klanglichen Entdeckung oder einer noch intensiveren Hörerfahrung. Ich lauschte dem Fauchen und Atmen eines Vulkanes, hörte das Donnern kalbender Gletscher und erlebte in der Wüste die absolute Stille. Die rhythmischen Gesänge der Zikaden, Heuschrecken und Frösche klangen in meinen Ohren wie der vibrierende Herzschlag der Erde und es war, als ob ich unter meinen Kopfhörern der Natur beim schöpferischen Träumen zuhören durfte. Für mich bestand kein Unterschied mehr zwischen dem Tönen der Natur und der Musik des Menschen. In einer Übergangszone überlagerten sich beide Bereiche, und ich sah darin den Ursprung menschlichen Musizierens: eine Art Beschwörung der Natur durch Nachahmen.

Inzwischen arbeitete ich als Filmmusik-Komponist, und ich fragte mich, ob es nicht Wege gäbe, meine Eindrücke aus der Natur in die kompositorische Praxis einbeziehen zu können. In naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen stieß ich auf Untersuchungen, die eine Vielzahl natürlicher Vorgänge als einen zwar zufälligen, also nicht vorhersehbaren Prozess beschrieben, der gleichwohl immer wieder ähnliche Muster erzeugt und einen unerschöpflichen Reichtum an Formen und Strukturen zur Folge hat. Ich begriff, dass hier der Schlüssel zu meinen Beobachtungen lag. Vielmehr noch: Aus diesem Naturverständnis heraus konnte ich kompositorische Techniken ableiten, die es mir möglich machten, mit den natürlichen Klängen zu spielen und die pulsierenden Rhythmen der Natur in Musik zu übersetzen. Ich begann Apparate zu bauen, mit denen ich Wassertropfen in ein zufälliges, jedoch hoch rhythmisches Verhalten versetzen konnte. In den Rippelmustern auf Wüstendünen fand ich Vorlagen für eine rhythmische Partitur und aus den vielen Aufnahmen von Heuschreckenlauten und Froschgesängen entstand ein Hörstück voller komplexer Rhythmen, in dem die Grenzen zwischen dem selbstvergessenen, absichtslosen Tönen der Natur und einer komponierten Musik verschwammen. Heute kann ich das Hineinhören in die Natur gar nicht mehr aus meinem Leben wegdenken, es gehört zu meinem Alltag und ist ein Teil meiner Neugierde der Welt gegenüber.

Der vergangene Winter war ebenso kalt wie lang, und um Berlin herum waren die Seen über Wochen zugefroren. Mit einem Unterwassermikrofon, einem Eisbohrer und reichlich warmer Unterwäsche ausgerüstet ging ich abends auf den Liepnitzsee, der still und schwarz unter dem glänzenden Mond lag. Ich hatte die vage Hoffnung, dass sich Schall unterhalb der Eisoberfläche besser ausbreiten würde, also bohrte ich ein Loch in das noch etwas dünne Eis und schob das Unterwassermikrofon ins kalte Wasser hinab. Was ich über die Kopfhörer vernehmen konnte, war verblüffend: eine Vielzahl von Knack- und Knistergeräuschen, von denen die lauteren lange nachklingende Töne erzeugten, die ins Bodenlose abfielen. Nahezu synthetisch und außerirdisch anmutende Klänge breiteten sich unterhalb der Eisdecke aus und waren doch oberhalb kaum zu vernehmen. Die Eisfläche war eine riesige schwingende Membran, auf der sich in alle Richtungen die gewaltigen Spannungskräfte des Eises entluden. Die lautesten Risse blitzten durch den ganzen See und ließen die Eisdecke erbeben. Ich war beeindruckt: die bizarrsten und surrealsten Klänge keine halbe Fahrstunde von meiner Wohnung in der Stadt entfernt. Ist es Musik? Ich weiß es nicht. Aber die Klänge sprechen zu mir und haben mir etwas zu sagen, wenn ich nur lange genug zuhöre.


 

My Life With Music

My Life With Music (#28), from: Die Zeit Online, 16 July 2006

 

Listening to Nature

Andreas Bick, the author of this piece, is a composer. In his search for inspiration, he ventures out with a microphone to capture the sounds of glaciers, frogs and volcanoes. He tells us about his experiences with the sonic side of everyday life.

I remember a long winter during my childhood. When it finally began to get warmer again, we children would play beside a nearby lake that was still frozen over and which seemed to glow in the setting sun. There were cracking noises and whiplash fractures, as intimidating for us as the thinness and fragility of the ice. As a test of courage, we dared each other to go out as far as possible onto the ice sheet. I can still clearly remember the uneasy feeling out there and the eerie noises that sounded like electrical flashes, spreading right across the lake.

I failed the test of courage, but I continued to be fascinated by strange, mysterious sounds. In the mid-eighties I moved from the countryside to Berlin, plunging myself into a new life. I played in underground bands, worked as a taxi driver and experimented with all kinds of studio equipment. As a way of getting to grips with my new surroundings, I made recordings of everything that crossed my path: I secretly taped passengers in my taxi, I documented the sounds in the courtyard, and when the May Day riots exploded, I was there with my microphone. Over time, I built up an acoustic archive that preserved places and moments I would otherwise probably have forgotten. Listening to my recordings, I could summon up images and reawaken feelings with a depth of focus I was unable to achieve using photography. I began to explore the soundtrack of my life, keeping an acoustic diary: the microphone was my pen and the magnetic tape (now replaced by a hard drive) was my sheet of paper.

I went on journeys, discovering strange noises and exotic soundscapes. The world became a source of raw sound material, and the remoter the place, the further from civilization, the greater the promise of discovering a new sound or a still more intense listening experience. I listened to the snarling and breathing of a volcano, heard the thundering of calving glaciers and experienced the absolute silence of the desert. In my ears, the rhythmic singing of cicadas, crickets and frogs sounded like the vibrant heartbeat of the Earth, and inside my headphones, I had the impression of being granted permission to listen in on Nature’s creative dreaming. For me, there was no longer any difference between the sounds of nature and the music made by humans. There was a transitional zone where the two overlapped and which I saw as the source of human music-making: a form of invocation of nature through imitation.

In the meantime, I had begun to write music for films, and I asked myself whether there might not be ways of incorporating my impressions of nature into my work as a composer. In scientific publications, I happened upon studies that described numerous natural phenomena as random processes that could not be predicted but which nonetheless repeatedly generated similar patterns, resulting in an inexhaustible wealth of forms and structures. I understood that this was where the key to my observations lay. Moreover, this understanding of nature suggested compositional techniques that allowed me to play with Nature’s sounds and translate Nature’s pulsating rhythms into music. I began to devise set-ups that could be used to elicit random but highly rhythmical behaviour from water drops. In the ripple patterns on desert dunes, I found models for a rhythmic score. And the many available recordings of crickets and frogs gave rise to a piece full of complex rhythms, blurring the dividing line between the oblivious, unintentional sound-making of Nature and composed music. Today, I cannot imagine my life without this kind of attentive listening to nature; it is an everyday necessity, part and parcel of my curiosity towards the world.

Last winter was long and hard, and the lakes around Berlin were frozen over for weeks. Equipped with an underwater microphone, an ice drill and plenty of warm clothes, I went out one evening onto the Liepnitzsee, which lay silent and black under the bright moon. In the vague hope of discovering sounds beneath the surface, I drilled a hole in the still rather thin ice sheet and lowered the underwater microphone into the cold water. What I heard through the headphones was astonishing: a large number of cracking and crackling sounds, the louder ones generating tones that continued to resonate for a long time, falling off into bottomless depths. Sounds with an almost synthetic and otherworldly feel unfolding beneath the layer of ice, but barely audible from above. The ice was a huge oscillating membrane, channelling discharges of the powerful tensions within the ice in all directions. The loudest cracks shot through the whole lake and made the ice shudder. I was impressed – the most bizarre, surreal sounds less than thirty minutes‘ drive from my apartment in the city! Is it music? I don’t know. But the sounds speak to me and have something to tell me, if only I listen long enough.

Translated by Nicholas Grindell