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Veröffentlicht in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ Juli/August 2010

Wenn ein Baum im Wald fällt und niemand ist da, um es zu hören, macht der Baum dann ein Geräusch? Diese Frage in der Art eines Koans wird gerne in Schriften über Klang und Wahrnehmung zitiert und häufig entgegen unserer Intuition mit Nein beantwortet. Die Argumentation folgt diesem Gedankengang: Ein Geräusch ist etwas, das in unserem Gehirn entsteht, wenn unsere Ohren die Schwingungen von Molekülen wahrnehmen. Ein Geräusch ist demnach nichts anderes als eine mentale Repräsentation in unserem Nervensystem, während die Schallwellen außerhalb unserer Ohren lediglich Teil eines größeren physikalischen Kontinuums von Schwingungen sind. Ein Geräusch ist ein Produkt unserer Wahrnehmung — ohne Ohren, die hören, kein Geräusch.

Ähnlich lässt sich auch aus dem Blickwinkel der akustischen Kommunikation argumentieren: Danach durchläuft die Produktion eines Geräuschs die klassischen Stationen von der Klangquelle über das Medium hin zum Empfänger. Die Bewegung oder Vibration einer Klangquelle verursacht Schallwellen in einem umgebenden Medium wie Luft, Wasser oder festen Gegenständen. Die Schallwellen breiten sich konzentrisch aus und gelangen zum Empfänger, der diese Druck-und Dichteschwankungen wiederum in elektrische Impulse übersetzt und sie als Geräusch wahrnimmt. Wenn nur eine dieser drei Stationen entfällt, kann kein Geräusch entstehen. Fehlt der Empfänger, wie in der eingangs gestellten Frage, kann zwar physikalisch von einem Energietransfer vom fallenden Baum hin zum umgebenden Medium gesprochen werden, akustische Kommunikation im Sinne eines Austauschs von Informationen findet allerdings nicht statt. Ohne Empfänger keine Informationsübermittlung, also auch kein Geräusch.

Man könnte einwenden, dass beide Argumente recht anthropozentrisch klingen. Was würde das Eichhörnchen dazu sagen, wenn wir es befragen könnten? Richard Feynman hat in seinen Vorlesungen über Physik, 2007, eine naturwissenschaftlich orientierte Antwort formuliert, nach der bei genauerer Betrachtung Spuren wie Kratzer im Blätterwerk des gefallenen Baums zu finden sein müssten, die darauf hinweisen, dass ein Geräusch erzeugt wurde. «Wir könnten fragen: Gab es eine Empfindung des Lärms? Nein, Empfindungen haben vermutlich mit dem Bewusstsein zu tun.» Mit anderen Worten: Das Geräusch des fallenden Baums ließe sich physikalisch messen und als potentiell wahrnehmbar nachweisen, auch wenn kein Zeuge zugegen wäre, um Sinneswahrnehmungen zu empfinden. Im Kern stehen sich hier zwei widersprüchliche Definitionen des Begriffs Geräusch gegenüber: Für die einen ist ein Geräusch eine mechanische Schwingung in einem elastischen Medium, für die anderen ist es die subjektive Empfindung eines auditiven Reizes. Die physikalische Tatsache der Schallwellen als objektiv erkennbare Wirklichkeit steht dem komplexen menschlichen Wahrnehmungsapparat gegenüber, der erst durch die Verwandlung eines diffusen Klanggemischs in auditorische Objekte, sprich Geräusche, eine subjektive Wirklichkeit erzeugt.

Was ist also ein Geräusch? Ich habe bisher das Wort Geräusch ganz allgemein für alles Hörbare gebraucht, analog zum englischen sound. Es soll also in diesem Artikel auch musikalische Klänge und Töne umfassen, obwohl in der Musik zwischen Geräuschen und Klängen unterschieden wird. Die Philosophie hat die Geräusche traditionell den sekundären Qualitäten von Dingen zugeschrieben, zu denen auch Farben, Gerüche und Geschmack gehören und die bei wahrnehmenden Subjekten Sinneseindrücke erzeugen können. Diese Vorstellung wird in der Philosophiegeschichte prominent von John Locke vertreten, der damit Ende des 17. Jahrhunderts ein Weltbild vertrat, in dem Dinge unabhängig von unserer Erfahrung existieren können. Für ihn lässt sich aus sinnlicher Wahrnehmung objektive Erkenntnis gewinnen. Der irische Philosoph und Theologe George Berkeley widersprach dieser Sichtweise und behauptete, eine von der menschlichen Wahrnehmung unabhängige Welt gäbe es nicht. Um dieses zu illustrieren, sprach er in Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, 1710, von Bäumen in einem Garten, die nur solange da wären, wie sie jemand wahrnehmen würde. Erst später wurde aus dieser Passage die philosophische Rätselfrage nach dem Geräusch des fallenden Baums abgeleitet, so wie sie noch heute in verschiedenen Varianten kursiert und Berkeley zugeschrieben wird.

Mit Locke und Berkeley sind die Extrempositionen in der Diskussion um das Wesen des Geräuschs besetzt. Beide werden in der noch jungen Disziplin der Philosophie des Klangs kritisiert. Die Zuordnung von Klang zu den sekundären Eigenschaften von Dingen nach Locke kann nicht erklären, dass Geräusche zeitliche Phänomene sind, die sich in vielen Fällen auch nicht auf eine einzige Klangquelle zurückführen lassen. Veränderungen des Geräuschs im übertragenden Medium, wie der Doppler-Effekt oder Echos, können nicht von den sekundären Qualitäten der Klangkörper abgeleitet werden. Die Definition des Geräuschs als Sinnesempfindung dagegen erklärt viele Wahrnehmungstäuschungen wie akustische Illusionen und psychoakustische Effekte, kann aber nicht den Widerspruch auflösen, dass wir Geräusche in den meisten Fällen als von Klangquellen kommend wahrnehmen, also Geräusche nicht nur ausschließlich Objekte unserer inneren mentalen Welt sind, sondern von außen zu uns dringen. Zur Auflösung dieser Widersprüche wird die Ereignistheorie vorgeschlagen, nach der Klänge Ereignisse sind, die sich in der Zeit entwickeln und sich in Schallwellen manifestieren, die wiederum den Stimulus unserer sinnlichen Wahrnehmung darstellen. Casey O’Callaghan hat diese Theorie in seinem Buch Sounds: A Philosophical Theory, 2007, dargelegt.

Das erkenntnistheoretische Nachdenken über Geräusche wird aber durch einen weiteren trivialen Umstand verkompliziert: Es gehört heute zu unserem Alltag, Musik, Klänge und Geräusche über Lautsprecher wiederzugeben. Bisher gingen alle Theorien des Geräuschs von einfachen Alltagsklängen aus: Hundebellen, ein vorbeifahrendes Auto, ein paar Klänge auf dem Klavier. Wenn diese Klänge aber aufgezeichnet und reproduziert werden, welche Konsequenz hat das dann für eine Theorie des Geräuschs? Tatsächlich ist dieses auch ein naheliegender Einwand gegen Berkeleys philosophische Rätselfrage: Was wäre, wenn wir das Geräusch des fallenden Baums im Wald aufzeichnen würden, ohne anwesend zu sein? Wenn wir nun dieser Aufnahme lauschen, hören wir dann tatsächlich das Geräusch des fallenden Baums und können wir somit Berkeleys Frage eindeutig mit Ja beantworten? Oder hören wir nicht eher die Schwingungen der Lautsprechermembran, vielleicht sogar die Hoch- und Tieftöner als separate Klangquellen? Die Antwort muss lauten, dass wir uns des Wiedergabemediums schon meistens bewusst sind, uns trotzdem aber bereitwillig der Wahrnehmungstäuschung hingeben und die reproduzierten Klänge als von ihrer Quelle stammend wahrnehmen. So banale Dinge wie einer Aufzeichnung eines Konzerts zu lauschen oder eine Nachricht auf der Mailbox abzuhören, beruhen genau auf dieser eingewilligten Wahrnehmungstäuschung. Das Geräusch als Ereignis bleibt trotz der medialen Übertragung als sinnliche Wahrnehmung intakt, obwohl vielleicht ein qualitativer Verlust bei der Reproduktion eintreten mag. Tatsächlich ist der akustische Alltag in den Industrieländern inzwischen mehr von medial übertragenen, manipulierten und zeitlich dissoziierten Geräuschen geprägt als von ‹natürlichen› Klängen. Inzwischen können wir uns durchaus eine Zukunft vorstellen, in der wir uns in akustische Liveschaltungen von entfernten Orten einschalten, um zu hören, was dort gerade geschieht. Das Alfred-Wegener-Institut überträgt in einem Livestream seit Jahren die Geräusche der Unterwasserwelt der Antarktis nahe der Neumayer-Station ins Internet. Bioakustiker versehen Wälder mit Mikrofonen, um Veränderungen der Lebensräume zu überwachen. Sie hören den Baum fallen, ohne dass sie anwesend sind.

Berkeleys Fragestellung diente eigentlich dazu, Gott als einzige Instanz zu behaupten, die von allen Dingen ein umfassendes Wissen haben kann. Heute sind wir vielleicht noch weit davon entfernt, ein umfassendes oder ‹objektives› Wissen der Welt zu haben, aber wir haben in großem Maße eine Vorstellung von einer Wirklichkeit der zweiten Ordnung, die kommuniziert oder medial übermittelt ist. Wir wissen von Dingen, die wir nie je selbst leibhaftig erlebt haben, von denen wir aber ein mentales Bild in unserem Gehirn ablegen, weil wir davon gehört oder gelesen haben. Ein großer Teil dieser kommunizierten Wirklichkeit zweiter Ordnung ist reproduzierter Klang. Geräusch und Klang haben sich in der modernen Welt verflüssigt und sind zu einem modulierbaren Material geworden. Klänge täuschen und verführen uns, sie warnen vor Gefahren und befördern uns an ferne Orte. Uns steht es frei, eine der vielfältigen Perspektiven des Hörens zwischen Subjektivität und Objektivität einzunehmen, sei es, dass wir ein Geräusch mal als ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen, mal als eine spürbare Schwingung im Medium oder als ein auf einem Klangkörper auf ästhetisch ansprechende Art erzeugten Klang erfahren.
 

On Trees and Sounds

First published in “Neue Zeitschrift für Musik” July/August 2010

“If a tree falls in a forest and no one is around to hear it, does it make a sound?” This koan-like question is often quoted in texts on sound and perception, and the answer given is often a counterintuitive no. The argument is as follows: a sound is something created in our brains when our ears perceive the vibration of molecules. Consequently, a sound is nothing but a mental representation in our nervous system, while the sound waves outside our ears are simply part of a larger physical continuum of vibrations. A sound is a product of our sensory apparatus: without ears to hear, no sound.

A similar case can be made in terms of acoustic communication: the production of a sound runs through the classic stages from sound source via medium to recipient. The movement or vibration of a sound source generates sound waves in a surrounding medium such as air, water or solid objects. The sound waves spread concentrically and reach the recipient, who then translates these fluctuations in pressure and density into electrical pulses and perceives them as sounds. If any one of these stages is missing, then there can be no sound. In the absence of a recipient, as in the abovementioned forest, though it is possible to speak in physical terms of a transfer of energy from the falling tree to the surrounding medium, acoustic communication in the sense of an exchange of information does not take place: without a recipient, no transfer of information, and thus no sound.

One might object that these arguments both sound rather anthropocentric. What would a squirrel have to say, if we were able to ask? In his lectures on physics in 2007, Richard Feynman gave an answer framed in terms of the natural sciences, according to which it must be possible, on close inspection, to find traces such as scratches on the leaves of the fallen tree that point to the fact that a sound was generated. “We might ask: Was there a sensation of sound? No, sensations have to do, presumably, with consciousness.” In other words: the sound of the falling tree could be physically measured and proved to be potentially perceivable, even if no one was actually there to experience a sensory perception of it. Finally, we are looking here at two contradictory definitions of the concept of sound: for some, a sound is a mechanical vibration in an elastic medium, for others, it is the subjective sensation of an auditory stimulus. The physical fact of the sound waves as an empirical reality is set against the complex human sensory apparatus which must first transform a diffuse mix of sound into auditory objects (i.e. sounds) before generating a subjective reality.

So what is a sound? Philosophy has traditionally classed sounds among the secondary qualities of objects, a category which also includes colours, smells and flavours, all capable of making a sensory impression on perceiving subjects. A prominent advocate of this notion in the history of philosophy is John Locke, who, in the late 17th century, proposed a vision of the world in which objects can exist independently of our experience. For Locke, sensory perception is a potential source of objective knowledge. Irish philosopher and theologian George Berkeley contradicted this view and claimed that such a world independent of human perception does not exist. In A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710) he illustrated this by speaking of trees in a garden that are only there as long as someone is perceiving them. Only later did this passage give rise to the philosophical riddle about the falling tree as we know it today, which circulates in various forms and is still credited to Berkeley.

Locke and Berkeley represent two extremes in discussions of the nature of sound. In the still young discipline of the philosophy of sound, both are criticized. Classing sound as a secondary property of things, as Locke did, does not explain the quality of sounds as temporal phenomena that can often not be traced back to a single sound source. Changes to the sound in the transfer medium, such as the Doppler effect or echoes, cannot be derived from the secondary qualities of the source. And although it explains many phenomena such as acoustic illusions and psychoacoustic effects, the definition of sound as a sensory perception fails to resolve the contradiction that we usually perceive sounds as coming from sound sources, so that sounds are not exclusively objects of our inner mental worlds, but also something that reaches us from outside. A way of resolving these problems is offered by the concept of sounds as events, as events that unfold in time and manifest themselves in sound waves which in turn provide the stimulus for our sensory perception. Casey O’Callaghan explains this in his book Sounds: A Philosophical Theory (2007).

Epistemological reflection on sounds is further complicated by the trivial fact that the playback of music and sounds via loudspeakers is now a normal part of our lives. All previous theories of sound were based on simple everyday sounds: dogs barking, a car driving past, a few notes played on a piano. But when these sounds are recorded and played back, what consequences does this have for a theory of sound? This is in fact an obvious objection to Berkeley’s philosophical riddle: What if we were to record the sound of a falling tree without being there? When we listen to the resulting recording, do we then actually hear the sound of the falling tree, allowing us to answer Berkeley’s question with a resounding yes? Or is what we hear rather the vibration of the loudspeaker membrane, maybe even from high and low frequency speakers as separate sound sources? The answer must be that although we are mostly aware of the playback medium, we willingly surrender to the sensory illusion and perceive the reproduced sounds as if they were coming from their original source. Such banal things as enjoying the recording of a concert or listening to a voicemail message rely on precisely this accepted deception of the senses. The sound as an event remains intact as a sensory perception in spite of this media transmission, even if a degree of quality may be lost in recording and playback. In fact, the everyday sound of the industrialized world is now dominated more by mediated, manipulated sounds separated in time from their source than by “natural” sounds. We are now perfectly able to imagine a future in which we will be listen in on remote locations via  live broadcasts to hear what’s going on there. Already, the website of the Alfred Wegener Institute offers a live stream of the sounds of the underwater world of the Antarctic near the Neumayer Research Station. And bioacousticians install microphones in forests to monitor changes in habitat: they hear the tree falling without being there.

Berkeley’s line of inquiry was actually intended to support his claim that God is the only authority capable of having a comprehensive knowledge of everything. Today, we may be far from possessing a comprehensive or “objective” knowledge of the world, but we do have a well-developed sense of a second-order reality communicated or transmitted by media. We know about things that we have never experienced first hand, but of which we store away a mental image in our brains because we have heard or read about them. A large portion of this communicated second-order reality consists of reproduced sound. In the modern world, sounds have entered a state of flux, becoming a material subject to modulation. Sounds deceive and seduce us, they warn of dangers and transport us to faraway places. We are free to adopt one of the many listening positions between subjectivity and objectivity, experiencing a sound as a purely psychological phenomenon, as a perceptible vibration in a medium, or as something created by manipulating a given sound source in an aesthetically pleasing manner.

Translated by Nicholas Grindell