Autorenproduktion
Ursendung: 31. Dezember 2000, Deutschlandradio Kultur
Länge: 16 min.
„(Während ich) still dasitze und nichts tue, wird es Frühling, und Gras sprießt auf.“
zitiert in Zenrin Kushu, einem schmalen Heftchen zur Schulung des Zen-Buddhismus
Tagesringe hat das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit und den gleichförmigen Rhythmus der Tage zum Thema. Die Dauer von 61 Tagen wird in langsamen Tempo durchschritten, simple Pianoakkorde markieren die Übergänge der einzelnen Tage, das scheinbar Langweilige verdichtet sich zu einem intensiven Erleben subjektiver Zeit. Die Jahresringe eines Baumstammes standen Pate für die Vorstellung, daß sich die Tage durch eine individuelle Klangcharakteristik und unterschiedliches Empfinden ihrer Dauer voneinander unterscheiden.Tagesringe wurde inspiriert durch eine Idee Paul Austers aus seinem Drehbuch zu „Smoke“, in dem einer der Protagonisten jeden Morgen die Straßenecke, an der er lebt, abfotografiert und die immer gleichen Fotos über Jahre hinweg sammelt. Ins Akustische übersetzt ließen sich hieraus einfache „Regeln“ für die Realisierung dieses Hörstückes ableiten. Jeden Morgen nach dem Aufstehen soll an einem festen Ort für 2 bis 3 Minuten die zufällig herrschende Klangkulisse aufgenommen werden. Die Aufnahmen sollen sich über einen Zeitraum von zwei Monaten in der Übergangszeit vom Winter zum Frühling erstrecken. Als Gegenpol zu dieser Langzeitabbildung einer dem stetigem Wandel unterlegenen akustischen Umgebung soll eine Klavier- improvisation eingespielt werden, die ausschließlich aus langen gehaltenen Akkorden besteht. Für diese Einspielung gilt: es gibt nur einen Versuch, der dann unverändert übernommen wird; die Improvisation ist mit „leerem Geiste“ durchzuführen – also ohne etwas zu wollen, ohne musikalischen Ausdrucksdrang; es werden nur weiße Tasten gespielt, der musikalische Gehalt soll auf ein Minimum reduziert sein. Diese Klaviereinspielung wird so manipuliert, daß die Ausschwingphasen der aufeinanderfolgenden Akkorde sich ins Endlose verlängern und zu einer Klangwolke verschwimmen. Die Klavierimprovisation dient als Montagegerüst für die Außenaufnahmen – jeder Akkord markiert den Beginn eines neuen Tages, die Dauer des Akkordes bestimmt die Länge des gewählten Ausschnitts. Tagesringe beginnt mit einem einleitenden endlos weiterklingenden Akkord, erst mit dem zweiten Akkord setzt der erste Tag ein. Die sich zu einem Cluster verdichtenden Klavierakkorde stehen für die Vorstellung einer sich konzentrisch ausdehnenden Zeit, in deren Gegenwart noch Vergangenes hineinstrahlt.
Der Ort der Aufnahmen war der Mikrokosmos eines Berliner Hinterhofes, der von einem Balkon im fünften Stock aufgenommen wurde, sodaß über die Dächer hinweg stets der großstädtische Klangraum wahrnehmbar war. Jeder neue Tag oder Akkord „tickt“ einzelne zufällige Ereignisse an: Kinder spielen im Hof, jemand leert die Mülltonne aus, Handwerker renovieren in einer Wohnung, ein Flugzeug fliegt vorüber. Darüberhinaus lassen sich im ständigen Wechsel der Tage minimale Änderungen in der klanglichen Grundstruktur erkennen – es ist, als ob jeder Tag eine individuelle Grundatmosphäre hätte. Verschiedene Witterungsverhältnisse wie Wind oder Regen unterscheiden die Tage drastischer voneinander. Durch die Nähe zum Funkturm streut an einigen Tagen ein Radiosender auf dem linken Kanal ein – ein vermeintliches Störgeräusch, das in seinem unvorhersehbaren Auftreten trotzdem ein charakteristischer Teil des Ganzen wird. Über den Zeitraum von 61 Tagen ist zudem die Einkehr des Frühlings erlebbar: die Singvögel kehren aus ihren Winterquartieren zurück, die Bäume bekommen Blätter und rauschen im Wind. Die sich gleichförmig dahinwalzende Zeit wird in ihrem unmerklichen Wirken komprimiert erfahrbar. Der beständige Rhythmus der Tage erscheint als Wiederkehr des Ähnlichen, als tägliche Erneuerung im scheinbar Gleichen, vergleichbar mit den sich kreisförmig ausbreitenden Ringen um einen ins Wasser geworfenen Stein.
Tagesringe
Author production
First broadcast: December 31st, 2001, Deutschlandradio Kultur
Length: 16 min.
„Sitting quietly, doing nothing, Spring comes, and the grass grows by itself“
from Zenrin Kushu, a slim volume of Zen Buddhist teachings.
The theme of Tagesringe is the inexorable passing of time and the steady rhythm of the days. A period of 61 days is spanned at a slow tempo, simple piano chords mark the transitions from one day to the next, and the seemingly banal is condensed into an intense experience of subjective time. The idea that days differ from one another in terms of sound characteristics and perceived duration came from the phenomenon of annual rings in the wood of a tree.
Tagesringe was inspired by an idea from Paul Auster’s film Smoke, in which the main character begins each day by taking a photograph of the crossroads where he lives, building up a collection of photographs of the same subject over years. Translated into the acoustic sphere, this yielded simple ‘rules’ for the realization of the sound composition: 1) Every morning after breakfast, record the random background sound at a fixed location for two or three minutes. These recordings were scheduled to span a period of two months covering the transition from winter to spring. 2) As a contrast to this extended image of an acoustic environment subject to constant change, play a piano improvisation consisting solely of long chords. For this recording, the following rules apply: one take only, that will then be used and left unchanged; improvisation to be executed with ‘empty mind’, i.e. with no intentions and no desire for musical expression; only white keys to be played, musical content should be reduced to a minimum. This piano recording was then manipulated in such a way that the tail phase of each chord was extended to infinity, blurring into a cloud of sound. The piano improvisation served as a framework on which to mount the outdoor recordings, with each chord marking the start of a new day and the length of the chord determining the length of the selected passage. Tagesringe begins with an introductory endless chord and the first day only begins with the second chord. The piano chords accumulating into a cluster stand for the idea of time extending outwards in concentric circles, where the present contains ripples from the past.
The location used for the recordings was the microcosm of a rear courtyard in Berlin, as heard from a top floor balcony, where the sounds of the city beyond are always audible across the roofs. Each new day/chord is marked by a single random event: children playing in the yard, someone emptying their rubbish, workers renovating an apartment, a plane passing overhead. As the days succeed each other, minimal changes in the basic sound structure can also be detected: it is as if every day had its own individual atmosphere. Weather features like wind or rain make for more drastic contrasts. On some days, radio broadcasts from the nearby television tower are captured on the left channel, a type of ‘interference’ whose unforeseeable occurrence finally became a characteristic element within the piece. Over the period of 61 days, the arrival of spring makes itself felt: songbirds return from their winter locations, leaves grow on the trees and rustle in the wind. In this compressed form, the imperceptible action of time’s inexorable progress is revealed to the senses. The steady rhythm of the days appears as the return of the similar, as daily renewal within apparent sameness, comparable with the concentric rings radiating outwards from a stone thrown into water.
Translated by Nicholas Grindell